Tschechische EU-Ratspräsidentschaft: Europa als Aufgabe

Analyse

Am 1. Juli hat die Tschechische Republik für sechs Monate den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernommen. Unsere Büroleitungen in Brüssel und Prag, Eva van de Rakt und Adéla Jurečková, analysieren die Prioriäten und Herausforderungen der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft.

Václav Havel
Teaser Bild Untertitel
Václav Havel auf einer Konferenz in Straßburg, 2000.

Letzten Freitag übernahm Tschechien von Frankreich den Staffelstab der EU-Ratspräsidentschaft. Als Motto ihrer Ratspräsidentschaft wählte die tschechische Regierung den Slogan „Europa als Aufgabe“, womit sie sich auf eine Rede Václav Havels bezieht, die dieser 1996 zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen hielt. Damit möchte die tschechische Regierung nicht nur zum „Nachdenken über Europa und zum Überdenken bisheriger Ansätze und Annahmen“ anregen, sie versteht Havels Ausführungen auch als Aufforderung, mehr Verantwortung für globale ökologische, soziale und wirtschaftliche Herausforderungen zu übernehmen. 1996 formulierte Havel Europas Aufgabe wie folgt: „Etwas überspitzt könnte man sagen, dass die Aufgabe Europas heute darin besteht, sein eigenes Gewissen und seine eigene Verantwortung wiederzufinden. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Das bedeutet nicht nur die Verantwortung für die eigene politische Architektur, sondern auch die Verantwortung für die Welt als Ganzes.“ [1]

In seiner Rede beschäftige sich der erste tschechische Staatspräsident mit der Geschichte, dem Zustand und der Zukunft Europas. Er wies auf zivilisatorische Bedrohungen, potenzielle Konflikte, begrenzte Ressourcen, Umweltzerstörungen und wachsende soziale Ungleichheiten hin. Viele Gedanken, die sich in dieser Rede wiederfinden, sind von so bemerkenswerter Aktualität, dass es sich lohnt, Havels damaligen Worte aus heutiger Sicht zu reflektieren.

Gedanken Havels von bemerkenswerter Aktualität

Sechseinhalb Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und acht Jahre vor der ersten großen Runde der EU-Osterweiterung betonte Havel die politische Notwendigkeit einer europäischen Einigung. Er beschrieb die EU als einen beispiellosen Versuch, Europa zu einem einheitlichen, demokratischen und solidarischen Raum zu machen. Dabei appellierte er an die EU und die NATO, „ganz Europa als Wertegemeinschaft unmissverständlich zu versichern, dass sie keine geschlossenen Clubs sind“. Schon damals formulierte er glasklar das Ziel und Wesen der europäischen Einigung: „Es mag paradox klingen, aber die europäische Einigung war und ist keine Einschränkung der Freiheit im Sinne einer Enteignung bestimmter Rechte des Bürgers durch eine immer weiter entfernte Macht, sondern ganz im Gegenteil: Sie ist ein Prozess der Vertiefung dieser Freiheit (…). Ich habe den Eindruck, dass sich die Europäer und die europäischen Politiker erst heute, wo eine neue Verhandlungsrunde über die Zukunft der Europäischen Union stattfindet und u.a. über ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik diskutiert wird, dieser zutiefst politischen Dimension des europäischen Einigungsprozesses voll bewusst werden.“

Es ist bezeichnend und war sicherlich kein Zufall, dass Havel die Bedeutung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hervorhob. Die Frage, wie die EU zukünftig mit autokratischen Regimen umgehen und Abhängigkeitsstrukturen vermeiden kann, wird in den nächsten Monaten und Jahren eine zentrale Rolle spielen, wobei ein schneller Zuwachs von Strategiefähigkeit im außen- und sicherheitspolitischen Denken und Handeln auf EU-Ebene dringend geboten ist. Außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Antworten auf die russische Aggression müssen europäisch erfolgen. Dabei müssen nach einer langen und unverantwortlichen Phase der politischen Versäumnisse vor allem die historischen Erfahrungen und Bedenken der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten und Partner einbezogen und ernst genommen werden. Es ist in diesem Zusammenhang eine Chance, dass Tschechien im Rat bis Ende 2022 eine moderierende Rolle zukommt.

Die Prioritäten der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft mussten in den letzten Monaten im Kontext des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine und den damit einhergehenden rasanten Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen neu formuliert werden. Tschechien hat für die Präsidentschaft die folgenden fünf Schwerpunktbereiche benannt: (1) Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg, (2) Sicherheit der Energieversorgung, (3) Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten und der Sicherheit im Cyberspace, (4) strategische Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sowie (5) Widerstandsfähigkeit der demokratischen Institutionen.

Unterstützung der Ukraine

Die tschechische Ratspräsidentschaft möchte die Ukraine in der Verteidigung ihrer Souveränität und territorialen Integrität unterstützen, indem die EU „alle verfügbaren Instrumente und Programme einsetzt, einschließlich der Verschärfung der Sanktionen“. In den Prioritäten wird richtigerweise betont, dass „die politische und militärische Unterstützung der EU und der Mitgliedstaaten für die Ukraine im vitalen Interesse der EU (liegt), um die Sicherheit in Europa zu gewährleisten“. Auch der Wiederaufbau wird als wichtige Aufgabe verstanden, vor allem die Wiederherstellung kritischer Infrastrukturen, die Sicherstellung grundlegender Dienstleistungen sowie die wirtschaftliche Erholung und Stabilität der Ukraine.

In Bezug auf die Aufnahme der Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine nennt die tschechische Regierung wichtige Schwerpunkte: Schaffung der notwendigen Strukturen, langfristige Integration, Unterstützung der besonders betroffenen Mitgliedstaaten, Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt inkl. Kinderbetreuung, Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Man kann in diesem Kontext allerdings nur hoffen, dass die derzeitige Aufnahmebereitschaft vieler mittel- und osteuropäischer Mitgliedstaaten langfristig einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der EU-Migrations- und Asylpolitik begünstigen wird, der seit 2015 vor allem (aber nicht nur) von den Visegrád-Ländern blockiert wurde und immer noch wird.

Versorgungssicherheit und Energiewende

Als wichtigstes kurzfristiges Ziel im Bereich Energieversorgungssicherheit nennt die tschechische Regierung das Beenden der Abhängigkeiten von russischen fossilen Energieimporten. Auch in Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft wird erläutert, dass die EU ihre „Abhängigkeit von feindseligen oder instabilen Regimen“ drastisch verringern muss und Freihandelsabkommen mit „demokratischen Nationen in der Welt“ von zentraler Bedeutung sind. In den Prioritäten heißt es zum Thema Versorgungssicherheit: „Die tschechische Präsidentschaft wird sich auf die Fragen der Energieversorgungssicherheit der EU konzentrieren, deren Bedeutung derzeit die der Energiewende übersteigt.“ Diversifizierung der Ressourcen, Energieeinsparungen, die Beschleunigung des Übergangs zu „emissionsarmen und erneuerbaren Energiequellen“, das Anfüllen der Gasspeicher vor dem nächsten Winter sowie Energieeffizienz werden als Schwerpunktthemen genannt. Es ist zwar richtig, dass zwischen kurz- und langfristigen Lösungen und Strategien unterschieden wird, denn es ist offensichtlich, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten mit vielen Dilemmata konfrontiert werden, die uns energiepolitisch vor schwierige Entscheidungen stellen werden. Es ist auch gut, dass die Bedeutung von Einsparungen, Erneuerbaren und Energieeffizienz hervorgehoben wird und die negativen sozialen und wirtschaftlichen Folgen der hohen Energiepreise verringert werden sollen. Allerdings ist es irreführend, den Eindruck zu erwecken, die Energiesicherheit sei der Energiewende übergeordnet, denn sie sind eigentlich zwei Seiten derselben Medaille. Eine ambitionierte Umsetzung des European Green Deal ist Grundvoraussetzung für Energiesicherheit. Dabei ist und bleibt auch in Zukunft die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der europäischen Nachbarschaft zentral. Die Tatsache, dass in den Prioritäten die „Rolle der Kernenergie bei der Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit der EU und der Verwirklichung der EU-Klimaziele“ ins Spiel gebracht wird, ist aber leider ein falsches Signal. Der EU-weite Ausbau der Atomkraft kann nicht die Antwort auf die gegenwärtigen Herausforderungen sein, denn wir brauchen nachhaltige Lösungen, um die Abhängigkeiten von Russland zu beenden und die sich verschärfende Klimakrise zu bewältigen. Abgesehen von allen mit der Atomkraft verbundenen Risiken und Gefahren ist diese heute die teuerste, unflexibelste und zeitintensivste Form der Stromerzeugung, da der Bau neuer Reaktoren sehr lange dauert. Jeder Euro und jede tschechische Krone, die in neue Atomkraftwerke investiert werden, verschärfen die Versorgungssicherheits- und Klimakrise, weil Kapital gebunden wird und dieses Geld nicht in andere, effiziente und nachhaltige Optionen investiert werden kann.

Widerstandsfähigkeit demokratischer Institutionen

Wichtig ist, dass die Regierung eines Visegrád-Landes die Resilienz demokratischer Institutionen als eine Priorität nennt und sich dadurch klar von den Regierungen in Budapest und Warschau distanziert. Die tschechische Regierung betont: „Die russische Aggression hat uns wieder einmal eindringlich daran erinnert, dass der langfristige Wohlstand und die Stabilität Europas auf funktionierenden demokratischen Mechanismen beruhen. Die tschechische Präsidentschaft wird sich daher auf die Stärkung der Widerstandsfähigkeit von Institutionen konzentrieren, die für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der demokratischen und rechtsstaatlichen Werte in der EU von entscheidender Bedeutung sind, beispielsweise die transparente Finanzierung politischer Parteien, die Unabhängigkeit der Massenmedien und ein offener Dialog mit den Bürgern.“

Darüber hinaus werden explizit die Konferenz zur Zukunft Europas, der Dialog mit jungen Menschen und ihre Beteiligung an politischen Prozessen, vor allem auch im Rahmen des Europäischen Jahres der Jugend, sowie die Bewahrung und Stärkung der Freiheiten und europäischen Werte sowohl im Offline- als auch im Online-Umfeld genannt. Auf internationaler Ebene möchte die tschechische Regierung den Aktionsplan für Menschenrechte und Demokratie umsetzen, mit Hilfe aller verfügbaren Instrumente, einschließlich möglicher Sanktionsmechanismen.

Verwunderlich ist, dass die globale Ernährungskrise in den Prioritäten an keiner Stelle erwähnt wird, denn gerade hier muss die EU Verantwortung für die Welt als Ganzes übernehmen, um auf die Worte Havels zurückzukommen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass das Thema in den nächsten Monaten auf EU-Ebene keine Rolle spielen wird.

Die EU-Ratspräsidentschaft als Aufgabe

Auch wenn es in den nächsten Monaten alles andere als einfach werden wird, in der EU 27 in zentralen Politikbereichen politische Antworten zu formulieren und Lösungen zu erarbeiten, bleibt zu hoffen, dass die tschechische EU-Ratspräsidentschaft wichtige Impulse geben kann. Dabei kommt der deutschen Bundesregierung eine wichtige Rolle zu, denn sie muss die Bemühungen des tschechischen Nachbarn unterstützen, zwischen den Mitgliedstaaten zu vermitteln, um die Einigkeit der EU zu wahren, der Ukraine Hilfe zu leisten und Putin in seiner Kriegsführung aufzuhalten. Das heißt natürlich nicht, dass alle Positionen der tschechischen Regierung geteilt werden müssen. Aber im Kontext des brutalen Angriffskrieges Russlands in Europa und den damit verbundenen verheerenden Folgen, Risiken und Unsicherheiten müssen wir uns gemeinsam den schwierigen und komplexen Fragen der Gegenwart und Zukunft stellen. Die Tschechische Republik ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Partner in der EU.

Die Ratspräsidentschaft bedeutet darüber hinaus auch eine Chance, im Land selbst pro-europäische Stimmen und das Bewusstsein sowie Interesse für europäische Themen zu stärken, denn Tschechien gehört seit vielen Jahren zu den EU-skeptischsten Mitgliedstaaten. Diese Skepsis hat verschiedene Ursachen - an erster Stelle muss allerdings das Unvermögen vieler Politikerinnen und Politiker genannt werden, für das europäische Projekt einzutreten, der tschechischen Öffentlichkeit die Vorteile der Mitgliedschaft zu erklären und in der EU eine aktive und konstruktive Rolle einzunehmen. Der ehemalige Staatspräsident Václav Klaus wiederholte in seiner Amtszeit von 2003 bis 2013 gebetsmühlenartig das Mantra der „Verteidigung nationaler Souveränität“ gegen das „Diktat aus Brüssel“. Nicht die Zukunft Europas, sondern das Wettern gegen die europäische Integration verstand er offensichtlich als seinen Auftrag. In der Bevölkerung hat dies Spuren hinterlassen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diesbezüglich sicherlich eine Trendwende in Bewegung gesetzt. Die aktuelle Umfrage „GLOBSEC Trends 2022“ zeigt, dass im Falle eines Referendums im Vergleich zu 2021 weitaus mehr Befragte für den Verbleib des Landes in der EU stimmen würden: 2021 antworteten 66 Prozent positiv, 2022 waren es 80 Prozent. Auch eine aktuelle Eurobarometer-Umfrage bestätigt diesen Trend: Im Frühjahr 2022 bejahten 54 Prozent der Befragten in Tschechien (EU 27: 65 Prozent), dass die Mitgliedschaft in der EU eine gute Sache sei, im Vergleich zu letztem Herbst ist das ein Zuwachs von 7 Prozentpunkten.

Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala ist zudem ein weitaus überzeugterer Europäer als sein ehemaliger ODS-Parteikollege Václav Klaus und als die ODS-Abgeordneten, die derzeit im Europäischen Parlament mit den polnischen PiS-Abgeordneten in der EU-skeptischen, nationalkonservativen Fraktion EKR (Europäische Konservative und Reformer) sitzen. Außerdem sind einige pro-europäische Parteien Teil der Fünf-Parteien-Regierungskoalition, u.a. auch die tschechischen Piraten, die mit dem Vize-Premier für Digitalisierung und Minister für Regionalentwicklung Ivan Bartoš sowie dem Außenminister Jan Lipavský für die Ratspräsidentschaft wichtige Ressorts innehaben. Im Europäischen Parlament sind die Abgeordneten der Piraten Mitglieder der Fraktion Grüne/EFA.

Es ist erfreulich, dass sich die tschechische Regierung von dem negativen Einfluss distanziert, den Václav Klaus jahrelang auf das Selbstverständnis Tschechiens in der EU hatte. Denn es ist unzweifelhaft höchste Zeit, sich auf das Erbe Václav Havels zu besinnen, der schon 1996 in bemerkenswerter Weitsicht warnte: „Wenn die Demokraten nicht rechtzeitig die innere Struktur Europas als einheitliches politisches Gebilde aufbauen, werden andere damit beginnen, und den Demokraten werden nur noch Augen zum Weinen bleiben.“

 


[1] Übersetzung aus dem tschechischen Original der Rede von Václav Havel „Evropa jako úkol (Europa als Aufgabe)“, gehalten am 15. Mai 1996 in Aachen, Knihovna Václava Havla, Archiv (Reden 1996/projevy 1996, abgerufen am 30.6.2022)